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Die romanischen Bräuche der Giuventüna – zwischen Tradition und Wandel

Während viele Traditionen wie die Schlitteda bis heute lebendig geblieben sind, gibt es auch Bräuche, die den Wandel der Zeit nicht überstanden 
haben. Der Verein Giuventüna da Samedan, seit 1911 das Herzstück der romanischen Jugendkultur, steht vor der Herausforderung, junge 
Menschen wieder für alte Bräuche zu begeistern.

Bei klirrender Kälte versammelten sich gut 20 Jugendliche zu «Chanter suot las fnestras». Unter den Fenstern der Samedner Dorfbewohner sangen sie an Heiligabend aus vollem Herzen drei bis vier Stunden lang 
romanische Weihnachtslieder. «Wir haben die Lieder so oft geübt, bis wir sie im Schlaf konnten», erzählt Gabriela Grob, die von 1978 bis 1995 in der Giuventüna da Samedan aktiv war. «Die letzte Station war zum Aufwärmen immer im Haus des Gemeindepräsidenten, das war lustig». Anschliessend ging es in die Kirche und dann endete der Abend gesellig mit Glühwein und Bütschellas (Rosinenbrötchen) im Croce.

«Chanter suot las fnestras» zählt zu den Bräuchen, die den Wandel der Zeit nicht überstanden haben. «Es ist schade, aber das Interesse an den Weihnachtsbräuchen hat bei uns nachgelassen», gibt Nicola Willen, der heutige Präsident der Giuventüna da Samedan zu. «Immer weniger Leute wollen singen, und viele können es auch gar nicht mehr so gut.»

Samichlaus kommt auch nicht mehr persönlich

So klopften anno dazumal am 6. Dezember Samichlaus und Schmutzli noch «persönlich» an die Türen und blickten in aufgeregte Kinderaugen, die sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Vorfreude erwarteten. «Wir haben inseriert und die Eltern konnten ihre Kinder anmelden», erinnert sich Gabriela Grob. «Ich bin selbst öfter als Schmutzli verkleidet mitgegangen», schmunzelt die Gemeindemitarbeiterin.

Heute gibt es die Besuche nicht mehr. «Es finden sich keine Interessierten für diese Tradition, viele sind da auch am Arbeiten», sagt Nicola Willen und ergänzt: «Dafür gibt es dieses Jahr einen neuen Event zu Silvester!»

Silvester und die Plakattradition

An Silvester ist es Tradition in Samedan, dass die Giuventüna handgemalte Plakate (Spruchbänder) im Dorf aufhängt, die die Ereignisse des vergangenen Jahres mit einem Augenzwinkern kommentieren. Früher war dies ein Highlight für die Dorfgemeinschaft, wie Gabriela Grob erzählt: «Man hat immer gerätselt, wer diesmal dran sein würde. Einmal hatten wir zwei Polizisten – einer wurde als Engel dargestellt, der andere als Teufel, je nachdem, wie viele Bussen sie verteilt hatten.»

Obwohl der Brauch geblieben ist, hat er sich verändert. «Früher war der Dorfplatz um Mitternacht voll, die Leute haben sich richtig um die Plakate gedrängt. Heute mit Social Media und all den Medien ist die Plakat-Aktion eher symbolisch», erklärt Nicola Willen, «die meisten sind auch um Mitternacht woanders feiern». Und die 21-jährige Lara Donatz, die auch im Vorstand der Giuventüna ist, ergänzt: «Ich finde die Aktion trotzdem total cool. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit mitzumachen, weil ich an Silvester im Hotel arbeite.» Nur ein bisschen bange vor dem Malen wäre es ihr schon: «Ich bin nicht künstlerisch begabt, ich hoffe, ich würde es dann trotzdem hinbekommen.»

Die Plakat-Tradition bleibt, auch wenn neue Anlässe dazukommen. So organisiert die Giuventüna erstmals eine grosse Silvesterparty namens «Explosiun» mit DJ Bundisch in der Promulins Arena. «Wir möchten Silvester wieder nach Samedan bringen und den Einheimischen eine Alternative zu den teuren Events in St. Moritz zu bieten», sagt Nicola Willen. «Oh ja», ergänzt Lara Donatz, «und alle sind herzlich eingeladen – egal, ob Jung oder Alt!» 

6. Januar: Von Bleigiessen bis Schneebar – die Bavania

Am Dreikönigstag, dem 6. Januar, richtet die Giuventüna öffentlich die Bavania auf dem Chesa Planta Platz aus. Gabriela Grob erinnert sich an die ursprüngliche Version des Brauches: «Das war ein geselliger Abend, nur für uns Mitglieder. Aus einem uralten Buch haben wir im Croce versucht, etwas Schlaues in das geschmolzene Blei zu dichten», erzählt sie und lacht.

Damals folgte ein weiteres Ritual, das heute ausgestorben ist: Das Schuhwerfen. «Vor der Kirche haben die Mädchen ihre Schuhe über die linke Schulter geworfen. Die Richtung, in die die Spitze zeigte, sollte auf den zukünftigen Bräutigam deuten. Es hat natürlich fast nie gestimmt, aber wir hatten jede Menge Spass dabei», erinnert sich die heute 62-Jährige.

«Das Bleigiessen ist heute öffentlich und die Deutungen stammen aus dem Internet», sagt Nicola Willen mit einem Grinsen. Im Mittelpunkt des geselligen Treibens an der Schneebar steht neu der Dreikönigskuchen – ein Kuchen, so gross wie ein halber Tisch. Wer die darin versteckte Königsfigur findet, bekommt einen Gewinn. Die traditionelle Bavania hat sich dem Zeitgeist angepasst. Doch die Mischung aus alten und neuen Elementen zeigt, wie flexibel und lebendig die Bräuche der Giuventüna geblieben sind.

Schlitteda: Fast wie vor 50 Jahren

Die Schlittenfahrt Schlitteda im Februar ist wohl einer der eindrucksvollsten Bräuche, die bis heute von der Giuventüna liebevoll gepflegt werden. Am Morgen versammeln sich die Teilnehmenden in ihren farbenprächtigen Engadiner Trachten, um den Tag gemeinsam zu verbringen, während die dekorierten Pferde und Schlitten vorbereitet werden. «Man fühlt sich wirklich wie in einer anderen Zeit», sagt Lara Donatz begeistert. «Auch die Touristen auf dem St. Moritzersee staunen, fotografieren und stellen Fragen. Es macht einfach Spass, sich auf diese Weise zu präsentieren, und es ist etwas, worauf ich stolz bin.»

Ursprünglich diente die Schlitteda dazu, potenzielle Ehepartner zusammen zu bringen, doch diese Bedeutung hat sie längst nicht mehr. Erstaunlich deckungsleich klingen dann auch die Erzählungen von heute wie vor 45 Jahren: «Die Vorbereitungen waren aufwendig, doch der Zusammenhalt und die besondere Stimmung an diesem Tag haben alles wettgemacht», kommt auch Gabriela Grob ins Schwelgen.

Damals wie heute werden die Kosten für Pferde, Schlitten und Trachten von den Teilnehmenden selbst übernommen. Doch Lara Donatz lässt sich davon nicht abhalten: «Die Schlitteda ist jedes Jahr ein Highlight für mich. Ich habe die Tracht meiner Grossmutter bekommen und wir mussten sie extra von einer der wenigen Damen, die das noch beherrschen, für mich anpassen lassen». Nicht verwunderlich, denn jede Tracht ist einzigartig und wird oft in der Familie weitergegeben.

 Grosse Kaffeestube am 
Chalandamarz-Ball

Auch an Chalandamarz, der seit Jahrhunderten das Ende des Winters und den Beginn des Frühlings markiert, ist die Giuventüna bis heute aktiv. Während die Kinder mit grossen Kuhglocken und Peitschen durch die Strassen laufen, sorgt die Giuventüna für Speis und Trank am Ball in der Turnhalle. Dieser wird von über 200 Schülerinnen und Schülern, deren Eltern und Lehrpersonen besucht. Lara Donatz erinnert sich gern an ihre eigenen Erfahrungen als Kind: «Ich war damals in der Schule und hatte immer viel Spass an dem Ball. Es fühlt sich gut an, Teil dieser Tradition zu sein und den jüngeren Generationen dieselben Erinnerungen zu ermöglichen.»

Die Zukunft der Bräuche

Die Giuventüna organisiert auch im Sommer Tageswanderungen, die traditionelle Charreda im Herbst – ein Erntedankfest mit Pferden und Heuwagen und andere Zusammenkünfte. Doch sie kämpft mit den gleichen Problemen wie viele Vereine: Junge Menschen ziehen weg, haben weniger Zeit oder interessieren sich nicht mehr für die Traditionen. Lara Donatz, die zwischen Praktikum und Hotelfachschule pendelt, gibt zu: «Es ist nicht immer leicht, alles unter einen Hut zu bringen. Aber solange man sich trifft und etwas gemeinsam macht, bleibe
 ich dabei.»

Nicola Willen hingegen sieht einen positiven Trend: «Die Giuventüna erlebt ein Comeback. Junge Menschen haben wieder Interesse an den Bräuchen und wir machen vermehrt Werbung. Es ist schön zu sehen, dass sich wieder was bewegt.»

Hier findet ihr Hintergründe zu allen Bräuchen der Giuventüna da Samedan. Herzlichen Dank an Nicola Willen, dass er zu diesem Zweck seine Vertiefungsarbeit zur Verfügung gestellt hat.