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«Solange du stehen kannst, kannst du noch weiterlaufen»

Die 29-Jährige Anja Giacometti wurde letztes Jahr Finisherin des 
Engadin Ultra Trail EUT102. Mit einer Distanz von 102 Kilometern 
und der Überwindung von etwa 5‘700 Höhenmetern meisterte sie die 
Königsdisziplin in unglaublichen 19 Stunden und 20 Minuten. 
Zwischendurch hat sie aber auch ans Aufgeben gedacht.

Die gebürtige Bergellerin, die seit 2010 in Samedan lebt, erinnert sich gerne an ihren Lauf beim Engadin Ultra Trail. Denn die meiste Zeit über hat Anja Giacometti die wunderschöne Landschaft genossen. Aber auch hin und wieder mal allzu steile Anstiege ‚verflucht‘: «Vor allem, wenn ich wusste, dass es auch eine ganz leichte Strasse da hoch gibt», erzählt die Finisherin lachend.

Der Lauf im Engadin Ultra Trail war ihr zweiter dieser Art, wobei der erste auch Schlafpausen gehabt hatte. Den EUT102 ist sie hingegen durchgelaufen, ohne zu schlafen. Um durchzuhalten, sei ihr nur wichtig gewesen, Energie zu sparen und strategisch zu laufen.

Die Verpflegungsposten alle 15 bis 20 km waren ideal ausgestattet – so Anja Giacometti – von Wasser und Isogetränken bis zu warmen Speisen wie Kartoffeln und Pasta an einigen Stellen.  «Auch wenn ich kaum was essen konnte, weil mein Magen ziemlich rebelliert hat», erinnert sich die berufliche Treuhänderin.

Der Gedanke ans Aufgeben

Der Abschnitt ab La Punt verlangte ihr dann alles ab. Es war ein wunderschöner, heisser Sommertag und ab hier wurde es richtig streng, erinnert sie sich. Zum ersten Mal erschien ihr der Gedanke ans Aufgeben verführerisch. ‚Soll ich in Zuoz aufhören? Wozu mache ich das alles überhaupt?‘, erzählt sie, was ihr damals durch den Kopf ging. Zum Glück sei ihr Freund – selbst ein passionierter Ultraläufer – an ihrer Seite gewesen. Er habe die Wasserflaschen ausgetauscht und sie angefeuert, weiterzumachen. «Er sagte zu mir: ‚Du kannst noch stehen, also kannst du auch weiterlaufen‘».

 Und Anja Giacometti lief weiter. Solange bis es wieder leichter wurde. Sie erreichte das Ziel nachts um ein Uhr – mit einer absoluten Bestzeit von 19 Stunden und 20 Minuten. Erstaunlicherweise blieb die Finisherin sogar von Blasen und Muskelkater verschont, «aber meine Beine waren ganz schön schwer am nächsten Tag».

Mentale Stärke am Wichtigsten

Was ihr am meisten geholfen habe, durchzuhalten? «Das Mentale», sagt sie und fügt hinzu: «Eigentlich sind es nur der Kopf oder die Ernährung, die dir einen Strich durch die Rechnung machen können.» Ein grosser Fehler sei es darum, zu wenig zu essen oder zu trinken. Sie habe sich jede Stunde gezwungen, mindestens 200 kcal und genügend Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

Im Ziel sei der Gefühlsmix aus Stolz, Freude, Erschöpfung und Erleichterung unbeschreiblich gewesen. «Erst dachte ich: So streng war es gar nicht. Und gleich danach: Das mache ich nie wieder», erinnert sie sich und lacht. 
Begeistert am Engadin Ultra Trail hat Anja Giacometti vor allem die Atmosphäre und die effiziente Organisation.

 «Ich mag familiäre, kleinere Rennen sehr. Es ist sympathisch und nicht so eine Massenveranstaltung,» sagt sie. Und fügt hinzu: «Die Strecke ist fantastisch, man hat hier einfach alles, was das Herz begehrt – Trails, Feldwege und das Beste ist, du läufst mitten durch die schönen Engadiner Dörfer. Das macht es abwechslungsreich und man kann den Lauf trotz der Anstrengung geniessen.»

Über die Autorin

Liwia Weible

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